Kein Felgenfest
Das Felgenfest fällt für mich leider aus.
Meine Mutter kann nicht kommen, weil sie gerade einer Familie beisteht, deren Kind die Tage verstorben ist.
(Das ist natürlich wichtiger als unseren "Ehrentag" zu gestalten.)
Da ich die Umständlichkeit mit einem Welpen auf so einer Großveranstaltung nur in Kauf genommen habe, um den Geburtstag meines Vaters gemeinsam mit meiner Mutter zu begehen, werde ich vernünftigerweise zu hause bleiben, bzw. hier eine kleine "welpenfreundliche" Runde drehen.
Dieser Geburtstag meines Vaters ist ein emotionaler Tag, nicht nur weil er 60 Jahre alt geworden wäre.
Es ist auch die Zeit, in der sein Leben langsam zu Ende ginge, wäre alles so verlaufen wie die Onkologen sich das vorgestellt hatten.
Daran denken meine Mutter und ich oft:
Wie traurig, dass er es nicht geschafft hat. Und dass nun wohl das Sterben beginnen würde.
Ich bin dankbar, dass ich dieses Jahr ganz anders begehen darf als 2016 und nicht vor mir liegt, was ich schon durchlebt habe. Und trotzdem würde ich alles noch einmal auf mich nehmen, wenn mein Vater dafür noch bei uns wäre.
Alles nur Zufall?
Neulich sprach ich mit einem Freund. Er fragte, ob mir eigentlich auch auffallen würde, dass ich seit langem schon mit dem Tod zu tun hätte. Immer wieder. Und immer sehr nah.
Ja, das ist mir aufgefallen.
"Vielleicht ist es eine besondere Aufgabe an dich", meinte er.
Vielleicht. Ich bekomme keine Antwort auf diese Frage, aber ich nehme an, was mir begegnet.
Wenn ich es nicht selbst erlebte, würde ich mir kaum noch glauben.
Erst Sohn, dann Vater (der Onkel ein halbes Jahr später war dann nicht so dramatisch), meine treue Hundefreundin und dann eine meiner besten Freundinnen vor einigen Wochen.
Ich kam der Bitte der Familie nach, ihre Beisetzung zu gestalten, war also quasi "die Pfarrerin".
Eine große Ehre und gleichzeitig eine schwere.
Da ich einige Jahre zuvor die Hochzeitszeremonie hielt, war einfach klar, dass ich diesen letzten Freundschaftsdienst leiste.
Mitnichten nur eitel Sonnenschein
Warum schreibe ich heute so komische Gedanken nieder? Auf einem Liegeradblog?
Zum einen teile ich es mit euch, weil ihr durch mein Wirken hier vielleicht den Eindruck bekommen könntet, in meinem Leben scheint immer die Sonne. Auf den Bildern strahle ich meistens, ich fahre ein Trike, von dessen Ausstattung viele träumen, und ich unternehme anscheinend dauernd etwas.
Auf so einem Blog kann (und möchte) man immer nur einen ganz kleinen Teil seines Alltags darstellen und natürlich sind das wegen des Themas "Liegerad" auch noch ausgewählte.
Vielleicht bin ich heute aber nur ein bisschen melancholisch, weil es dieser besondere Tag ist.
Einige von euch schreiben mir private Nachrichten und erzählen über ihre schwierige Lebenssituation. Finanziell, gesundheitlich und auch sozial. Bei Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen oder die publizieren, seht ihr immer nur einen winzig kleinen Ausschnitt. Glaubt nicht, dass sie permanent mit Glück gesegnet sind.
Natürlich schreibe ich nicht, wenn ich im Krankenhaus liege.
In der Zeit nach dem Tod meines Vater schrieb ich lange überhaupt nicht mehr.
Auch nicht, als ich zweimal wöchentlich zur Infusion schlich, um mich körperlich wieder aufzubauen, weil ich keine Nacht mehr schlafen konnte und mir der Appetit abhanden gekommen war.
Als meine Freundin im Koma lag und ihre Tochter mir weinend am Telefon erzählte, dass die Ärzte dringend dazu rieten, die Geräte abzustellen, dachte ich, ich müsse durchdrehen.
Und ich fürchtete mich wahnsinnig davor, die Beerdigung zu gestalten.
Dass mir all das passiert, ist der Hammer.
Aber wisst ihr was?
So kann das Leben eben sein. Es fragt uns nicht, ob wir das gerade verkraften können. Es lässt uns keine Zeit, uns gründlich vorzubereiten. Du willst Mutter sein? OK, aber niemand hat versprochen, dass du das Kind auch aufziehen darfst.
Du bist durch deinen Beruf bestens vernetzt mit den profiliertesten Kliniken und sogar einen führenden Forscher in der Krebstherapie? Super, das heißt aber noch lange nicht, dass dein eigener Vater auch den Weg wählt, den du als den vielversprechendsten ansiehst.
Du kannst es nicht ertragen, das Leid deiner Mutter nur aus der Ferne zu begleiten? Tja, dann sei mal flexibel und lerne was Neues.
Und so kann das Leben trotz allem und gleichzeitig auch sein: Es ist nicht alles immer nur permanent schlimm. Wenn du dich ab und zu auf dein Trike setzt, kannst du abschalten und kleine Momente auch genießen. Wenn du krank oder schwach bist, ist vielleicht heute ein Tag, an dem es besser ist. Freue dich jetzt darüber und denke nicht daran, dass es morgen wieder richtig schlimm sein könnte.
Trike fahren lässt neue Gedanken und Gefühle zu. Hier lebte Emilia noch und schaut frech aus dem Anhänger.
Das Leben kann ein Arschloch sein
Das Leben ist gut. Und es kann auch ein echtes Arschloch sein.
Dieses Leben, das ich und du führen, ist eben das einzige, das wir haben. Und manchmal haben wir nur wenig Gestaltungsmöglichkeiten. Hier auf diesem Blog teilen wir den Teil unseres Lebens miteinander, den wir lieben und der uns begeistert. Wir sind im Austausch und freuen uns miteinander.
Deswegen dulde ich auch keine Miesmacher und Fieslinge. Nicht hier. Nicht in unserer Community.
Authentisch zu sein bedeutet nicht, dass ich mein ganzes Privatleben hier ausbreite. Aber dass ich ab und zu so einen Artikel verfasse, der dir zeigt, dass anderer Menschen Leben auch nicht immer so glänzend läuft wie es den Anschein hat. Also meines zum Beispiel. Niemand muss und soll mich beneiden oder versuchen so zu sein wie ich.
Denke immer daran, wenn du Menschen vor der Kamera siehst: Das ist nur ein kleiner Ausschnitt. Sie haben ähnliche Probleme, Minderwertigkeitskomplexe und Ängste wie du. Manchmal sogar noch schlimmere.
Der Mutmacher
Und dann gibt es noch die Menschen, die sind so durchschnittlich wie du und ich. Denen hat das Leben übel mitgespielt. Sie haben Krebs, sind halbseitig gelähmt, sitzen bestenfalls irgendwann mal im Rollstuhl.
So einen Menschen kennt ihr von meinem Blog. Sven Marx.
Er hat dem Leben den Stinkefinger gezeigt und ihm wider Erwarten noch Jahre abgetrotzt.
Und nicht nur das. Sven Marx begann seine Mobilität auf dem Fahrrad zu trainieren.
Der erste Kilometer: ein Sieg
Die ersten sechs Kilometer zum Brandenburger Tor: ein Triumph
Sein Traum damals: Wenn ich 50 Jahre alt werde, radle ich ein Mal um die Welt.
Bestimmt gab es Leute, die ihn heimlich auslachten.
Ist klar, ne, um die Welt radeln! ALLEINE!
Der Tumor in Svens Hirnstamm lässt ihn alles doppelt sehen. Sein Gleichgewicht ist gestört. Wie soll das gehen bitte?
Sven beim "Üben" für seine Weltreise. Er radelte erst mal durch Europa.
Urheberrecht am Bild: Sven Marx
Sven ist nun auf der Heimreise von seiner Weltumrundung. Er hat es geschafft! Er hat seinen Traum nicht nur geträumt, sondern ihn Schritt für Schritt umgesetzt.
Aber Sven Marx reist nicht nur, um sein Ego zu bedienen. Er ist ein Alchemist, der aus Scheisse Gold gemacht hat, im übertragenen Sinne. Sein Weg aus dem Rollstuhl zum Weltenradler inspiriert mittlerweile Tausende.
Betroffene, Angehörige, Verzagte - Sven Marx spricht mit ihnen, gibt Vorträge und steht unermüdlich für sein Motto: Du kannst viel mehr als du glaubst. Mach deine körperliche Einschränkung nicht zur mentalen.
Der Berliner ist Botschafter für Inklusion und hat die Fackel vom Netzwerk Inklusion Deutschland auf seiner Reise dabei. 2015 hatte er sie vom Papst segnen lassen.
Interview mit Sven Marx
Letzte Woche hatte ich eine Videoschaltung mit Sven Marx. Er hatte gerade Europa wieder erreicht und freute sich sehr, seiner Heimat mit jedem Tag näher zu kommen.
LiegeradFrau: Sven, du wirst in vielen Ländern von den deutschen Botschaftern empfangen. Was besprecht ihr da miteinander?
Sven Marx: Meine Welttour steht ja unter dem Motto "Inklusion", und so schaue ich immer ganz genau, ob ich in dem Land, in der Stadt, wo ich gerade bin, Menschen mit Behinderungen in der Öffentlichkeit sehe. Nehmen diese Menschen am öffentlichen Leben teil? Wie sieht es zum Beispiel aus mit Barrierefreiheit? Was tut das jeweilige Land für Teilhabe und wie geht die Gesellschaft mit Menschen mit Behinderungen um? Darüber diskutiere ich dann mit den Botschaftern und bringe Vorschläge ein.
LiegeradFrau: Vor kurzem schriebst du, dass du nicht mehr weiter kommst, weil dein Rad nicht aufzufinden sei.
Sven Marx: Ja, die Fluggesellschaft wusste nicht wo es abgeblieben war. Ich habe ja immer ein bisschen Angst um mein Fahrrad, wenn ich fliege. 2015 sass ich eine Woche lang in Budapest fest, weil mein Rad verschwunden war und niemand wusste wer nun zuständig sei.
"Mein Leben ist reisen.
Ich müsste nicht ausgerechnet mit dem Rad reisen.
Aber nur so geht es für mich.
Ich liebe es draussen zu sein."
Sven Marx
LiegeradFrau: Wenn man so was hört, kann man schon wieder viele Gründe finden, sich lieber nicht auf so ein Abenteuer einzulassen ...
Sven Marx: Es ist wurscht wo du mit dem Fahrrad unterwegs bist. Eine Weltreise ist nicht schwer. Es ist wie durch die Stadt radeln. Du musst auf den Verkehr achten und radeln. Verständigen kannst du dich immer. Du brauchst sonst nichts. Wenn du durch Deutschland radeln kannst, kannst du auch um die Welt radeln. Du musst nur organisieren können, wegen Transport, wenn du mal den Zug oder das Flugzeug nehmen musst.
Überall auf der Welt sind super nette Menschen. Ich habe nur nette Menschen unterwegs getroffen. Die Welt ist gut, das habe ich gelernt.
Ich bin happy auch vom Kopf her, denn jeder Tag bringt mich näher nach zuhause. Ich radle total gerne, sonst könnte ich ja auch das Flugzeug nehmen, dann wäre ich gleich wieder daheim.
LiegeradFrau: Wenn du im Spätsommer zuhause in Berlin ankommst, wirst du eineinhalb Jahre unterwegs gewesen sein. Hattest du zwischendurch nicht mal Heimweh?
Sven Marx: Seit ich in den USA bin fahre ich heim. Meine Packtaschen sind nicht mehr so voll, weil ich nicht mehr so viel Proviant hineinstopfen muss. Ich bin jetzt hier in Europa wieder in Ländern, wo ich überall Läden finde, um mich einzudecken. Vorher hatte ich mitunter vierzehn Kilo Essen und Trinken dabei. Auch logistisch ist es nun einfacher, weil ich schnell Unterkünfte wie Campingplätze finde. In der "Zivilisation" campe ich nicht gerne wild.
Aber die Trennung von meiner Frau ist nicht so einfach. Ein Jahr ist irgendwie machbar, länger ist nicht ok.
LiegeradFrau: Worauf freust du dich am meisten?
Sven Marx: Die Dinge da zu haben, wo ich weiss, dass sie sind. Ich möchte bei meiner Rückkehr am Brandenburger Tor einen Luftsprung machen wie Rocky im Film als er wieder trainiert. Das Brandenburger Tor war auch meine erste Tour nach der Reha, das ich erreicht habe. Von da an wusste ich: Ich schaffe noch mehr!
LiegeradFrau: Welches Land gefiel dir besonders gut?
"Die Welt ist gut"
Sven Marx
Sven Marx: Aus der Perspektive der Inklusion war Kanada absolut spitze! Dort sieht man viele Menschen mit Behinderung im Alltag. Sie können am öffentlichen Leben teilnehmen, weil die Infrastruktur und Bedingungen dafür vorhanden sind.
Für Radreisende ist Südostasien ganz toll. Die Verkehrsteilnehmer nehmen Rücksicht auf Radfahrer und es ist nur wenig los auf den Straßen. Es ist preiswert dort, aber man kann nicht einfach zelten, wegen des Wassers überall. Dafür sind die Unterkünftig billig, wenn man sich nicht allzu sehr wegen der hygienischen Umstände grämt.
LiegeradFrau: Wie geht es dir gesundheitlich?
Sven Marx: Total gut. Ich habe während meiner Reise große Fortschritte gemacht. Zum Beispiel beim Gehen. Ich kann jetzt viel sicherer gehen und wanke nicht mehr so. Ich traue mich, ohne Hilfe zu gehen. Mein Fahrrad war ja immer auch mein Krückstock, auf dem ich mich abgestützt habe.
Beim Haaretrocknen habe ich mich vor der Reise immer mit dem Knie an der Badewanne abgestützt für die Balance. Unterwegs hatte ich keine Badewanne. Ich war gezwungen, frei zu stehen. Und das klappt nun super.
LiegeradFrau: Was ist dein nächstes Lebensziel?
Sven Marx: Mein 60. Geburtstag! Wenn ich den erleben darf, mache ich wieder eine Weltreise, aber dann mit dem Zug. Ich fahre sehr gerne Zug. Und so kann mich dann auch meine Frau begleiten.
Aber bis dahin werde ich noch viel Touren unternehmen. Ich möchte gerne zu den Paralympics nach Japan radeln und eventuell mit jemandem auf dem Tandem, der nur mit Tandempartner aufs Rad kann.
Ich schreibe außerdem schon an meinem zweiten Buch. Und natürlich werde ich weiterhin Vorträge geben, mich für Inklusion einsetzen und Menschen besuchen, denen ich hoffentlich Mut machen kann, wenn sie in schwierigen Lebenslagen sind.
Wir alle können aus Schlamm Gold machen. Unsere schlimmen Erfahrungen können für andere der Rettungsring sein, der sie vor dem Ertrinken rettet. Vorausgesetzt wir teilen unsere Erfahrungen.
Das gilt genauso für die schönen!
Titelbild: Urheberrecht Sven Marx