Es war mucksmäuschenstill, alle hörten gebannt zu und niemand wurde unruhig als der geplante Vortrag sehr viel länger ging als angekündigt.
Im Gegenteil! Es schien als könnten die ZuhörerInnen nicht genug bekommen, denn nach dem Vortrag wurde der Referent mit seinem Esel bestürmt und umringt und alle wollten noch mehr hören.
Der Esel darf rein, das Liegedreirad bleibt draußen!
Ähh – moment mal, ein Esel in der VHS? Und warum darf der rein, aber Alfreds Liegedreirad von Hase bleibt im Regen stehen?
Das treue Reiserad von Sven Marx heißt “Donkey” (englisch für “Esel”), weil es gutmütig und zuverlässig ihn und das schwere Gepäck durch viele Länder trägt. Und wenn man sich Svens Fahrrad genauer ansieht, entdeckt man wieviel Liebe und Zeit er in seinen Reisegefährten investiert hat. Manches Detail hat das Publikum sehr fasziniert, weil es nicht nur äußerst praktisch, sondern auch noch ziemlich unauffällig montiert ist.
Von Sven Marx habe ich schön öfters geschrieben und versprochen, ihn ein wenig auf seinen Wegen zu begleiten, um immer wieder von ihm zu erzählen. Der Tauchlehrer, der seine beiden Leidenschaften schlagartig aufgeben musste – Tauchen und Motorradfahren – mobilisierte nach einer Tumorerkrankung, die ihn halbseitig gelähmt als Pflegefall niederstreckte, all seine inneren Kräfte und zeigte den erstaunten Medizinern und seinem Umfeld, dass der Rollstuhl für ihn keine Option war → hier mehr darüber mit Video
Sicherlich setzte auch die Liebe verborgene Kräfte frei, denn Svens langjährige Lebensgefährtin heiratete ihn auf dem Höhepunkt seiner Krise vom Fleck weg und intensivierte das feste Band, das beide gemeinsam durch das Leben trägt. Eine Frau sagte nach dem Vortrag zu mir: “Was für eine tolle Frau er hat! Mutig und stark muss sie sein, nicht nur, weil sie all das mit ihm durchgestanden hat, sondern auch, weil sie ihn immer wieder gehen lässt. Sie muss ihn ziehen lassen, das ist bestimmt nicht immer leicht…”
Ja, Sven ist ein Weltenbummler. Er bereist mit seinem Donkey die Welt und bereitet sich auf eine Weltumrundung vor. Um sich praktisch darauf vorzubereiten, ist er schon quer durch Europa und auf der “Route 66” in Amerika geradelt. Weniger der Kondition wegen, sondern um Länder und Sitten kennenzulernen und um mit den Landschaften und ihren Klimazonen vertraut zu werden.
“Meine Frau und ich werden uns immer wieder sehen, während ich die Welt umradle. Ich habe überhaupt keine Bedenken, dass wir uns auseinanderleben, denn wir hatten schon mal eine Zeit in unserem Leben, in der wir uns nur alle drei Monate sehen konnten und es hat super funktioniert”, erzählt er dem staunenden Publikum und meint damit die Jahre, in denen er in Ägypten arbeitete und seine Frau mit dem Sohn noch in Deutschland blieb, bevor sie zu ihm übersiedeln konnte.
Mit dem Trike durch die Nacht
Aber es gab noch jemanden an diesem Abend, der durch seinen erstaunlichen Einsatz Anerkennung auf sich zog.
Alfred wollte sich Svens Erzählungen über seine Reisen und den Umgang mit seiner Erkrankung – immerhin sieht er alles doppelt und hat Gleichgewichtsstörungen, weil der Tumor immer noch in seinem Hirnstamm sitzt – auf keinen Fall entgehen lassen und reiste auch nach Detmold an.
Naja, so ungefähr 30 km sind vielleicht nicht die Welt, die kann man ja ruhig fahren, allerdings fuhr Alfred mit seinem Liegedreirad durch Regen und stürmischem Wind, es war ziemlich kalt und auch dunkel.
Wenn man sich dann mit Alfred unterhält, wird schnell klar, warum das eine außerordentliche Leistung ist: Er kann quasi nur ein Bein nutzen und belasten und im Gegensatz zu mir hat er nicht mal einen Motor zur Unterstützung am Rad! So brauchte er für die Strecke auch gut zwei Stunden und zuhause würde er erst mitten in der Nacht sein, aber das sollte noch ganz anders und viel schlimmer kommen….
Die Zigarette danach
gab es zwar nicht, dafür aber einen kleinen Happen zu essen und ein leckeres Getränk.
Allerdings war es nicht einfach, Sven von der Straße wegzubekommen, denn die Gespräche mit ihm gingen auch vor den geschlossenen Türen der VHS munter weiter.
Sven, ich und Alfred machten es uns in einer Kneipe gemütlich und reflektierten den Abend. Natürlich waren auch unsere Fahrräder Thema und jeder erzählte ein wenig von seinem Leben.
Beim Eintreten des Lokals war mir nicht entgangen, dass uns alle anstarrten und der Ton der Unterhaltungen leiser wurde. Ganz klar waren wir als “Behindertengruppe” identifiziert worden und wir wurden gemustert.
Gute Erziehung fehl am Platz
Jetzt muss ich noch etwas erzählen, was mir am Zusammensein mit Alfred und Sven auffiel und ich mir fast selbst auf die Nerven ging.
Schon als ich Sven am Bahnhof abholte, hatte ich den ständigen Impuls, ihm zu Hand gehen zu wollen. Sei es das Fahrrad anheben, ihm die Taschen abnehmen, egal, irgendwie hatte ich immer diesen Drang “zu helfen”. Als er sein Fahrrad die Treppen der VHS hinunter tragen wollte, packte ich prompt ungebeten mit an, aber Sven bat mich sofort, bitte loszulassen, weil ich ihn mehr behinderte als unterstützte. Ich dachte mir “Na gut, wenn er auf alleine auf Reisen ist, muss er es ja auch alleine machen”.
Bei Alfred wurde mein Helfertrieb noch schlimmer. Aber auch da musste ich die Erfahrung machen, dass meistens meine “Hilfe” gar keine ist. Jeder hat sein System und feste Abläufe, die reibungslos funktionieren und wenn man dazwischenfunkt, geht es meist nicht eben besser. Ich besprach das mit Sven und er gab zu, dass auch er diesen Impuls spürte, Alfred zur Hand gehen zu wollen, obwohl das völlig unnötig ist.
Fast dankbar riss ich Alfreds Fahrradtasche an mich, die ich in das Lokal trug, na endlich konnte ich “helfen”. Über diesen Drang, sich einzumischen, musste ich noch lange nachdenken. Natürlich ist es höflich und rücksichtsvoll, jemandem seine Unterstützung anzubieten, der offensichtlich alle Hände voll hat. Aber wenn die Person dankend ablehnt, sollte ein Mal auch genügen.
Gegen Mitternacht winkten Sven und ich Alfred hinterher, ich fand das gar nicht gut, dass er nun durch die Nacht radeln musste. Am nächsten Tag erfuhren wir, dass Alfred mitten in der Pampas eine Panne hatte und bis in die frühen Morgenstunden in Kälte und Regen ausharren musste bis ein Taxi ihn abholen konnte. Alfred versicherte uns, dass er trotzdem wohlauf sei und den Abend mit Vortrag und anschließendem Beisammensein genossen habe.
Im Frühling wird Sven wieder nach Detmold kommen, um noch mehr spannende Erlebnisse mit uns zu teilen – darauf freue ich mich schon sehr und hoffe, dass noch der ein oder die andere Leserin dazu kommen wird, denn wer einmal Svens erfrischende und herzliche Art erlebt hat, möchte nicht, dass er aufhört zu erzählen…