Vor genau einem Jahr standen Paul und ich fassungslos am Grab unseres Sohnes und Paul bettete seinen Erstgeborenen eigenhändig zur letzten Ruhe. Wir bestatteten Wotan in aller Zurückgezogenheit im Friedwald, am Fuße einer schönen Eiche. Dies war der Grund für meine “Winterpause” im letzten Jahr. Die Trauer war überwältigend und leider wurde ich auch sehr krank, nach der Geburt gab es Komplikationen. Das Baby kam im zweiten Drittel der Schwangerschaft viel zu früh zur Welt, um leben zu können. Wir wussten, es würde gleich sterben.
Paul und ich hielten in den schlimmsten Monaten der Trauer eng zusammen und waren sehr lieb und aufmerksam zueinander. Heute sehen wir, dass uns dieses Erlebnis eng zusammengeschweißt hat und schon im Sommer konnten wir auch wieder lachen und uns des Lebens erfreuen. Ich dachte damals, dass ich so etwas Schreckliches nicht noch mal durchstehen könnte und war froh, als die Traurigkeit überwunden war.
Doch das Leben hatte andere Pläne für meine Familie. Nur ein Jahr später, am letzten Mittwoch, stand ich ähnlich fassungslos am Grab meines Vaters.
Der letzte Ausflug auf dem Liegedreirad
Viele von euch kennen meine Eltern aus Beiträgen und Videos. Auf diesem Video, bei dem ich noch ein Trike von HP Velotechnik teste, sind wir auf unserem letzten Ausflug zu sehen.
Wir wussten das damals nicht. Es war wie eine Fügung, dass wir alle als Familie auf Trikes unterwegs waren, und mein Vater saß danach nie mehr auf seinem Scorpion. An jenem Tag fuhren wir über 50 Kilometer und hatten einen wunderschönen Tag. Mein Vater musste immer wieder Pausen einlegen, weil er Schmerzen in Rücken und Beinen hatte, aber er genoss die Familientour trotzdem sehr. Er hatte zwei gebrochenen Wirbel und mehrere gebrochene Rippen, wahrscheinlich kann man so schwer verletzt nur eine Radtour auf einem Liegedreirad unternehmen und dabei auch noch Genuss empfinden…
Ein Wunsch geht noch in Erfüllung
Mein Vater hatte immer davon geträumt, eine Radreise auf dem Weserradweg zu unternehmen. Im Sommer fuhren er und meine Mutter auf ihren Scorpionen nach Bremen und damit ging sein großer Wunsch in Erfüllung. Da hatte mein Vater bestimmt schon Brüche in der Wirbelsäule – seine Ärztin diagnostizierte Rheuma und verschrieb Physiotherapie und ein wenig Schmerzmittel.
Vier Tage nach unserem Scorpion-Familientag (im September) schickte ein besorgter Arzt meinen Vater in eine Klinik. Dort war man sehr ehrgeizig, die Ursache für die Schmerzen zu finden. “Wenn Sie hier rausgehen, wissen Sie hundertprozentig, was Ihnen fehlt”, versprachen die Ärzte und hielten Wort.
Die Brüche an Wirbelsäule und Rippen waren zu sehen und auch der Krebs, der das verursachte. 90 Prozent der Wirbelsäule waren befallen, einige Wirbel standen kurz vor dem Bruch und die Gefahr bestand außerdem, dass das Rückenmark in Mitleidenschaft gezogen würde, so dass eine Querschnittlähmung drohte.
Ich werde nicht alles aufschreiben was nun folgte. Für meine Mutter und mich war schon im Oktober klar, dass mein Vater in absehbarer Zeit sterben würde. Wir hofften, er hätte noch ein Jahr, aber alles ging sehr, sehr schnell. Die Querschnittlähmung blieb ihm erspart, auch langes Siechtum und Qual. Er starb – reichlich versorgt mit Morphium, das ihn vor Schmerzen bewahrte – Zuhause, in Würde und Geborgenheit. Im Juni wäre er 58 Jahre alt geworden.
Dieses letzte halbe Jahr fuhr ich regelmäßig nach Süddeutschland, um bei meinen Eltern zu sein und nahm immer wieder Abschied von meinem Vater. Behutsam versuchte ich trotzdem, dieses Blog weiterzuführen, nur die Abstände waren manchmal etwas größer zwischen den Beiträgen, wie ihr gemerkt habt. So lange mein Vater am Leben war, wollte ich seine Krankheit nicht öffentlich zum Thema machen. Nun ist er für immer fortgegangen und ich möchte gerne erzählen, wie wichtig gerade auch das Liegedreirad immer noch in all der Zeit war.
Eine der dringendsten Fragen, die mein Vater bei seinem ersten Klinikaufenthalt hatte, war: “Kann ich wieder auf meinem Liegedreirad fahren?”
Lichtblick Liegedreirad in dunkler Zeit
Er zeigte den Ärzten Fotos, denn Radfahren schien für sie wegen der Belastung des Rückens ausgeschlossen und was ein Liegedreirad sein sollte, mussten sie sich erst mal ansehen. Wenn die Wirbelsäule durch ihre Behandlungen erst stabilisiert sein würde, könnte er vielleicht im Frühling wieder ein bisschen fahren, versprachen sie ihm. Er war sehr zufrieden. Immer wieder sprach mein Vater vom Scorpion und stellte sich vor, wie er vorsichtig damit fahren würde, vor Unebenheiten müsste er sich besonders in Acht nehmen und wahrscheinlich den Motor immer auf höchste Unterstützung einstellen, aber so würde es gehen.
Im Winter sprach er nicht mehr vom Radfahren und sagte meiner Mutter, sie solle beide Scorpione verkaufen, um sich dann ein nagelneues leisten zu können. Er stellte sich gerne vor, wie meine Mutter auf ihrem Traum-Trike schöne Touren unternahm. Er fragte mich manchmal, ob ich gefahren sei und ich verneinte und sagte, dass ich erst wieder fahren wolle, wenn er auch fahren könne. Irgendwie machte ihn das zufrieden und die Loyalität rührte ihn. Ich meinte, es sei doch sowieso viel zu kalt im Winter, wer wolle da schon fahren? Ich wollte ihm das Gefühl vermitteln, er verpasse nichts.
Und es war tatsächlich so: Ich fühlte mich wie eine Betrügerin, wenn ich mich aufs Scorpion setzte. Ich wollte das nicht genießen, wenn mein Vater so sehr litt und selbst nicht radeln konnte. Das ist natürlich absurd und hat mit der Realität nichts zu tun. Meine Eltern sahen das beide ganz anders, aber alle Beteuerungen kamen nicht gegen dieses Gefühl in mir an. Ab November radelte ich nicht mehr. (Nur noch eine Tour zum Abschluss des Jahres.)
Wenn du weißt, dass ein dir lieber Mensch stirbt, dann gibt es viele Dinge, die du zum letzten Mal tun möchtest, Orte, die du gemeinsam zum letzten Mal besuchen willst.
Da wir hofften, mein Vater würde noch seinen Geburtstag erleben, wollte ich gerne eine allerletzte Abschiedstour mit dem Fahrrad unternehmen. Mein Bruder, meine Mutter und ich hatten unseren Ausflug im September als besonderes Geschenk empfunden. Wir würden das nicht wiederholen können, aber vielleicht einen Rahmen finden, der das bewusste Abschiednehmen auf dem Fahrrad möglich machte. Und hier tritt wieder die wunderbare Warmherzigkeit der Familie Hase von Hase Bikes in Erscheinung.
Sie hätten uns das motorisierte Tandem Pino gegeben, um meinen Vater vorne auf dem Liegeradsitz durch die Lande fahren und so den Ausflug realisieren zu können.
Vor vier Wochen wurde aber klar, dass mein Vater den Frühling nicht mehr erleben würde. Blut wird in den Knochen gebildet und wenn so viele deiner großen Knochen entweder durch Krebs oder massive Bestrahlung der Mediziner zerstört sind, wirst du immer blutleerer und schwächer und die Sauerstoffaufnahme nimmt ab.
Und dann kam der Tag, vor dem ich mich einerseits fürchtete und den ich andererseits herbeisehnte: Mein Telefon zeigte an, dass meine Mutter mich mitten in der Nacht angerufen hatte. Was sie sonst nie tut.
Im Anhang darf jeder gerne seinen Nachruf lesen, der wissen möchte, was für ein Mensch mein Vater war.
Die Bedeutung des Liegedreirads
Als mein Vater so krank war, schaute ich immer auch nach seinem Scorpion, das schön eingepackt im Keller stand. Jedes Mal brach in Tränen aus, weil mir die Decke, die es vor Staub schützte, wie ein Leichentuch anmutete. Manchmal packte ich es aus und berührte die einzelnen Teile. Nach der Beerdigung kann ich dieses Fahrrad nun ganz ruhig betrachten und es beschwört schöne Bilder in mir herauf.
Der Kommentar von Ruth Kunz hat mich in meinem letzten Beitrag besonders berührt. Sie schildert die Begegnung mit einem betagten Herrn, der sich im hohen Alter ein Liegedreirad gönnt. Die Frage wird aufgeworfen, ob sich eine Anschaffung dieser Größenordnung “noch lohnt”. Und auch in anderen Kommentaren wird immer wieder thematisiert, ob so viel Geld für ein Fahrrad gerechtfertigt sei.
Ich möchte euch heute ganz offen schreiben: Meine Eltern hatten zusammen so eine schöne Zeit mit ihren Liegedreirädern, die v.a. jetzt, da die Erinnerungen alles sind, was von meinem Vater bleibt, umso kostbarer ist. Mit Geld lässt sich das nicht mal annähernd aufwiegend. Natürlich hätte mein Vater noch ein paar Jahre warten können bis er mehr Geld gespart hätte oder er hätte sich stattdessen eine neue Küche kaufen können. In unserem Falle kann man ganz gut sehen, was schlimmstenfalls passieren könnte, wenn man mit der Erfüllung seiner Träume zu lange wartet.
Es gibt nichts Schöneres für uns Hinterbliebene, als die Gewissheit: Unsere letzte Radtour war perfekt und einmalig, seine letzte Radreise war die Erfüllung eines lang gehegten Wunsches, seine Freizeit hat er mit dem verbracht, was ihm am meisten Freude brachte – auf dem Liegedreirad.
Ohne dieses Blog wären die unzähligen Videoaufnahmen mit meinem Vater wohl nie entstanden. Es ist ein besonderes Glück, dass wir bewegte Bilder von ihm haben, die ihn mitten im Leben zeigen.
Das letzte Geschenk von ihm an seine Frau ist ein neues Scorpion, was ihr helfen soll nach der schlimmsten Trauer auch wieder Lebenslust erleben zu können. Ich selbst habe wieder Freude an dem Gedanken, mich auf mein Scorpion zu setzen, denn jedes Mal nehme ich meinen Vater in Gedanken mit und bin mit ihm auf diese besondere Art immer verbunden.
Nach dem Verlust unseres Kindes hätte ich nie gedacht, dass ich nur ein Jahr später wieder so eine große Trauer durchleben muss. Ich habe so junge Eltern, da waren Krankheit und Tod sehr weit weg. Ich könnte nun mit dem Schicksal hadern, mich vom Leben benachteiligt fühlen. Ich spüre heute wie vor einem Jahr eine große Erschöpfung. Aber ich weiß, dass nach einer Zeit des Schocks auch wieder die Lebensfreude erwacht. Das Leben hat mir nach dem Erlebnis im letzten Jahr eine Verschnaufpause gegönnt, bevor die Tragödie weiter ihren Lauf nahm. Irgendwie spüre ich, dass uns doch nicht mehr abverlangt wird als wir in der Lage sind zu meistern.
Liebe Menschen sind es, die mit ihrer Unterstützung oder stiller Präsenz in solch extrem fordernden Zeiten viel Zuversicht geben und helfen. Und in unserem Falle wird auch das Liegedreirad eine Rolle bei der Heilung spielen. Bei schönen Erinnerungen sowieso.
Die nächsten Wochen wird es still bleiben auf diesem Blog. Meine Aufmerksamkeit widme ich jetzt meiner Familie. Wenn alle Tränen versiegt und der größte Schmerz überwunden ist, werde ich mich mit neuer Inspiration wieder bei euch melden. Vielleicht verändere ich etwas hier, um einen Neuanfang zu beschreiben.
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